Leseprobe: das Schicksal von Azura

 

Es war, als würde er es selbst erleben.

Ein kleines Mädchen mit silbernem Haar, das vor einer Schriftrolle kniete und ein perfektes Schriftzeichen zu Papier brachte. Eine junge Kriegerin, die ihr geschwungenes Schwert mit einer tödlichen Präzision führte. Wie sie Qualen litt, wie sie misshandelt wurde. Wie sie zu dem wurde, was sie jetzt war.

Während sie gesprochen hatte, hatte es zu schneien begonnen. Flocken rieselten lautlos zu Boden und überzogen die bisher vom Schnee verschonten Fleckchen gänzlich. Die sogenannte Stadt der Barbaren sowie die ringsum befindlichen Berge schienen nun so etwas wie Gleichgültigkeit auszustrahlen – eine ehrfurchtgebietende uralte Ruhe, die niemand zu brechen vermochte.

Clay hatte schweigend dagestanden und war der Erzählung mit großer Neugier gefolgt. Nun, da Yins Geschichte zu Ende war, überlegte er, was er sagen sollte. Ihre direkte Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren wie ein Trost für den vom Leben gezeichneten Astrum.

»Dein Schicksal ist ähnlich wie das meiner beiden Freunde. Ihr habt Schreckliches erlebt und seid vor eurer Vergangenheit geflüchtet. Ich hingegen war immer gut behütet. Mein ganzes Leben lang wusste ich nicht, wie verdorben Azura eigentlich ist. Ich wusste nichts von der Grausamkeit der Novae oder dem Leid der Menschen; und ich wusste nicht, dass sie alle auf mich warten.«

Yin nickte. Sie ergriff Clays Hand und legte sie in die ihre. Die weichen Finger fuhren zärtlich über seine kalte Haut.

Der verunsicherte Astrum und die Nova blickten sich stumm an.

So gerne Clay geschwiegen hätte, um den magischen Moment so lange wie möglich aufrecht zu erhalten, gab es doch eine Frage, die er unbedingt beantwortet haben wollte.

»Gibt es … noch andere Astra?«

Yin zögerte.

»Das kann ich dir leider nicht sagen«, antwortete sie bestürzt. »Laut einem Dokument wurden nicht alle Astra vernichtet; einige konnten vor den Novae fliehen. Doch wo sie sich gegenwärtig befinden, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie bereits alle gestorben. Es tut mir leid.«

Clay wandte sich ab. Ihm war übel, und obwohl er am liebsten noch den ganzen Abend die Hand der jungen und hübschen Nova gehalten hätte, verschwand er wortlos.

Er verbrachte die Nacht alleine und war damit beschäftigt, sich selbst klar zu machen, dass er vermutlich der letzte Astrum der Welt war.

Und nun? Clay hatte sein Ziel, mehr über seine Vergangenheit und die Menschen Azuras zu erfahren, erreicht. Was folgte nun? Seinen zurückgelassenen Zieheltern hatte er versprochen, heil heimzukehren, aber war das wirklich, was er nun tun wollte? Würde er die Kraft sowie die Weisheit und den Mut aufbringen können, etwas in dieser Welt zu ändern? Oder hatte er bereits aufgegeben?

Azura würde die Veränderungen kaum bemerken, doch die Wesen in dieser Welt warteten darauf, unwissentlich und sehnsüchtig.