Geschichtensammlung
Als sich die Sonne in ihren Rücken langsam Richtung Horizont aufmachte, verwandelte sich die Stadt, die von oben wie ein hässlicher grauer Baustein inmitten der farbenprächtigen Natur wirkte, in eine riesige Platine, durchzogen von beschäftigten Leitern und besetzt mit blinkenden Lichtern; und bestimmt gab es auch Schaltkreise, die keine wirklich wichtige Aufgabe mehr erfüllten.
»Wenn wir immer weiter laufen, können wir die Sonne besiegen«, meinte Maria und grinste schief.
»Ich glaube, auch dieser Tag wird unweigerlich zu Ende gehen«, antwortete Johann erschöpft.
Sie hatten eine Biegung hinter sich gelassen und endlich den Fluss erreicht. Vorsichtig stiegen sie das Gefälle hinab und blieben schließlich am Ufer stehen. Anstatt den Sonnenuntergang zu genießen, warf Johann den Papierstapel von sich. Maria unterdrückte einen Schrei und blickte den Seiten traurig hinterher, als sie vom Wind davongetragen wurden. In ihren Kehlen bildete sich ein Kloß, und an diesem Tag sprachen sie keine zehn Worte mehr.
Es galt, neu anzufangen. Mit diesem Entwurf ihres Kinderbuches würden sie sich am Markt nicht durchsetzen können, hatte es geheißen. Dabei hatten sie beide so viel Zeit und Mühe in dieses Werk gesteckt. Johann hatte die Geschichten geschrieben. Maria hatte die Bilder gemalt. Ein liebevoll gemachtes Buch, das Kindern bestimmte Werte wie Disziplin und Treue näherbringen sollte.
Doch aus einem Neuanfang wurde nichts. Spätestens nach dem Ende des Studiums konnte sich keiner der beiden mehr auf das Werk konzentrieren. Sie mussten arbeiten, um ihre Wohnung zu erhalten, welche zudem geputzt werden wollte, und Nahrung brauchte man überdies, und an einem gewissen Punkt hatten sie auch einmal Haustiere besessen. In ihrem Leben war kein Platz mehr für ihre Leidenschaft, was sie beide sehr bedauerten.
Als an diesem seltsamen Tag die Sonne unterging, erinnerte sich Johann wieder daran, wie er und seine Partnerin an diesem Fluss gestanden hatten. Etwa fünfundzwanzig Jahre waren vergangen. Immer noch konnte er den Schmerz spüren, und er wurde nur noch größer, als er den Kopf drehte und den Stuhl musterte, in dem Maria ständig gesessen hatte. Nun war er leer, und sie hatte ihm auch keine Kinder hinterlassen. Eigentlich hatte sie nur eine einzige Sache zurückgelassen.
Es war schon dunkel, als Johann die Lampe anschaltete und sich an den Schreibtisch setzte. Trotz der unzähligen Versuche, trotz der niederschmetternden Enttäuschungen, trotz des unvergesslichen Schmerzes, entschloss er sich dazu, neu anzufangen. Denn es wütete immer noch in ihm, all die Jahre später, dieses Verlangen zu schreiben.
Vorsichtig platzierte er Marias Unterlagen neben sich. Eigentlich hatte sie stets Bilder zu seinen Geschichten gemalt, aber vielleicht sollte er Geschichten über ihre Bilder schreiben. Vielleicht würde sie das von den Toten zurückholen.
Es war schon dunkel – aber trotz allem beschlossen sie, neu anzufangen.
Wind zerzaust ihre Haare, aber es kümmert die beiden nicht. Sie lachen gemeinsam auf dem Weg nach Hause, und sie bringen ihre Schritte unbewusst in Einklang.
»Hast du Lust, was zum Essen zu schnappen?«
»Klingt prima; ich hol mir ein leckeres Eis, oder?«
»Das war aber keine Einladung – du zahlst schön selbst!«
»Ich weiß, du Idiotin!«
Chloe geht stets auf der linken Seite, Max auf der rechten. Sollte es einmal anders herum sein, fühlt es sich einfach nicht richtig an. Und irgendwie scheint das alles über Nacht geschehen zu sein. Plötzlich sind sie mehr als Freunde, mehr als Partner sogar.
Manchmal streiten sie auch. Werfen mit fiesen Worten um sich. Lügen, dass sie sich nie wieder treffen wollen. Dann gehen sie alleine heim. Springen in ihr Bett, mit einem Gesicht, als würde die Welt untergehen. Und lange nachdem die Sonne untergegangen ist, aber noch bevor der Tag zu Ende ist, zeigt das Handy an, dass eine neue Nachricht eingegangen ist.
»Es tut mir leid!«
Selbsterklärend, dass die Typen, zu denen sie sich hingezogen fühlen, verschiedener nicht sein könnten. Ruhig und schlau für die eine, stark und wild für die andere. Sie verstehen einfach nicht, wie ihr Gegenüber nur eine solche Art von Personen toll finden kann. Aber auf diese Weise dürften sie sich auch nie gegenseitig im Weg stehen.
Manchmal weinen sie auch. Wissen, dass sie ohne ihre Freundin leben könnten. Immerhin geht die Sonne erbarmungslos auf, komme was wolle. Aber wenn die eine der anderen erklärt, dass Tage ohne sie wie Instantsuppe ohne Nudeln sind, dann blicken sie sich nur mit aufgeblasenen Backen an.
»Du bist so eine Vollidiotin!«
Wind zerzaust ihre Haare, aber es kümmert die beiden nicht. Sie lachen gemeinsam auf dem Weg nach Hause, und sie bringen ihre Schritte unbewusst in Einklang.
Wenn jemals der Mann (oder die Frau?) aus den Träumen von einer der beiden auftaucht, wird er (oder sie?) bestimmt eifersüchtig auf die andere sein. Denn die beiden bleiben zusammen. Auch wenn sie es sich nicht versprechen.
Aussprechen müssen sie es nämlich nicht.
»Bleib du bei mir. Ich bleib bei dir.«
Von seiner Position aus konnte Herr Zimmermann vier Dinge wahrnehmen.
Da war zunächst das monotone Klacken der Standuhr, welches zu ihm herüberhallte. Bei der Uhr handelte es sich um ein Möbelstück aus stabilem dunklem Holz, das schon einige Jahre auf dem Buckel hatte, aber im Gegensatz zu seinem Besitzer erledigte es seine Aufgaben immer noch tadellos. Es war ein Geschenk von Herrn Zimmermanns bestem Freund gewesen. Zumindest war er damals ein Freund gewesen, doch leider hielten Freundschaften meist nicht ewig. Schade war bloß, dass sich Herr Zimmermann gar nicht mehr an den Namen des Freundes erinnern konnte.
Direkt vor ihm befand sich der Küchenschrank, mit zwei Glastüren bestückt, die beim Beben aufgesprungen waren. Eine der vielen Figuren auf den Regalen war heruntergefallen. Nun lag sie am Boden, und Herr Zimmermann konnte sie genauestens inspizieren. Seine verstorbene Frau hatte unzählige Figuren gesammelt, und diese hier war eine ihrer liebsten gewesen, ein kleines graues Mäuschen, das im Ballettkleidchen ein wenig verloren wirkte. Bei seinem Anblick dachte Herr Zimmermann an seine Frau und wie sie ständig die Regale gewischt hatte. Irgendwie ließ ihn die Erinnerung an die schlimme Krankheit seiner Frau erschaudern.
Aus dem Ofen drang ein aggressiver Geruch, und Herr Zimmermann konnte das verkohlte Brot beinahe schmecken. Er hatte es mit Wurst und Ei belegt, so wie es auch seine Schwester stets tat. Die beiden Geschwister hatten viele Gemeinsamkeiten, was durchaus Sinn ergab, da sie Zwillinge waren. Auch ihre Talente waren sehr ähnlich. So hatten sie in ihrer Kindheit beide ein Musikinstrument erlernt. Zusammen waren sie stundenlang auf der Veranda gesessen und hatten ihre blechernen Werkzeuge bearbeitet. Das letzte Mal hatten sich Herr Zimmermann und seine Schwester vor elf Jahren umarmt. Bei dem Streit um das Erbe waren Worte gefallen, die geschmerzt hatten.
Rau und kratzig fühlte sich der Umhängegurt des alten Rucksacks an. Als wäre er ein Rettungsanker in einem Bäume verschlingenden Sturm, so fest hatten sich Herr Zimmermanns faltige Finger um das Stückchen Stoff gekrallt. Früher hatte ihn sein Sohn auf Wanderausflügen getragen. Eine übertrieben grinsende Sonne war auf eines der Fächer gestickt worden. Nun gab es keine Ausflüge mehr. Vermutlich ging Herr Zimmermanns Sohn mittlerweile mit seinem eigenen Sohn wandern. Was für eine seltsame Bestrafung, den Enkelsohn nicht treffen zu dürfen, nur weil ein paar abfällige Äußerungen über Menschen anderer Hautfarbe gefallen waren.
Herr Zimmermann wusste, dass er sterben würde, wenn er keine Hilfe bekam. Hätte er sich doch nur bei seinem alten Freund entschuldigt, sich besser um seine kranke Frau gekümmert, mit seiner talentierten Schwester einen gemeinsamen Weg gefunden, alle Vorlieben seines aufgeschlossenen Sohnes akzeptiert. Vielleicht wäre dann einer dieser Menschen noch hier, um ihm nach diesem fatalen Sturz zu helfen.
Natasha hatte in ihrem Leben noch kein einziges Mal Angst vor der Dunkelheit verspürt. Im Gegenteil; vollkommene Finsternis war sogar befreiend. Keine Bilder, die seltsame Formen annehmen und verrückt spielen. Nur Schwärze, sonst nichts.
An diesem Tag allerdings hätte sich Natasha am liebsten eine Glühbirne auf die Stirn gebunden. Warum hatte sie auch diesen Weg durch das Wäldchen einschlagen müssen? Bloß um zehn Minuten früher zuhause zu sein und den grölenden Säufern am Bahnhofsgelände zu entgehen. Ein ziemlich großes Risiko für so eine kleine Abkürzung.
Die Taschenlampenfunktion auf Natashas Smartphone war keine große Hilfe. Da war zwar ein einigermaßen heller Lichtkegel, der die Schatten durchschnitt, doch der Nebel griff von allen Seiten nach ihr. Unter ihren Schuhen knackten Zweige, und trockene Blätter raschelten bei jeder Bewegung. Irgendwo machte sich ein Waldkauz mit einem aufgeregten Schrei bemerkbar.
Plötzlich stolperte Natasha. Beinahe wäre sie gestürzt, konnte sich jedoch im letzten Moment noch an einem dicken Stamm abfedern. Sie wusste, dass es keine gute Idee war, sich umzudrehen. Andererseits wollte sie wissen, worüber sie gestolpert war. Wie groß war schon die Wahrscheinlichkeit, dass da etwas Unheimliches lag? Vermutlich gleich Null. Aber es war kein Baumstumpf, es war auch keine Wurzel, und es war kein Felsen. Sondern eine Leiche.
Ob der Körper tatsächlich leblos war, konnte Natasha nicht sagen. Allerdings war er nackt und mit Erde beschmiert. Als der Lichtstrahl des Smartphones auf ihn fiel, stach das Rot zwischen all den anderen tristen Farben deutlich heraus.
Es dauerte eine Weile, bis sich Natasha wieder bewegen konnte. Dann schaltete sie die Taschenlampenfunktion aus, drehte sich um und begann zu laufen. Sie rannte durch die Dunkelheit. Wie schön es doch war, so wenig sehen zu können. Weniger Gelegenheiten für das Gehirn, hinter jedem Baum einen Mörder zu vermuten.
Drei Minuten brauchte Natasha, bis sie aus dem Wäldchen fand. Aber es hatte sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Sie spürte die Hormone in ihrem Körper herumwirbeln. Als wäre sie genüsslich ihre tägliche Morgenstrecke gelaufen. Doch der Schweiß auf ihrer Haut kam nicht von Anstrengung, sondern war aus purer Furcht geboren worden.
In ihrer Wohnung angekommen, entledigte sie sich ihrer Schuhe und ihres Mantels. Sie stellte ihre Tasche ab und schlurfte in die Küche. Selbst als ihr Verlobter sie begrüßte, sagte Natasha kein Wort. Nachdem sie ein Glas Wasser geleert hatte, stellte sie sich unter die Dusche und verließ das Bad erst nach eineinhalb Stunden wieder. Unter dem Vorwand, dass sie starke Menstruationsschmerzen hätte, legte sie sich gleich ins Bett.
Natashas Verlobter war bereits vor langer Zeit neben ihr eingeschlafen, doch sie starrte noch mit offenen Augen in die Finsternis. Da war sie wieder, rein und vollkommen. Sie würde dieses Geheimnis mit ihr teilen. Wie eine gute alte Freundin.
Unverhofft durchbrach Samuel den Strudel aus Dunkelheit und lauschte fast eine Minute lang mit angehaltenem Atem, doch da war nichts. Schließlich kuschelte er sich wieder an seine Tochter heran.
Sie war in eine zerlöcherte Decke eingewickelt. Ihr strohblondes Haar kitzelte die Wangen ihres Vaters, doch das war ihm egal. Er drückte ihren unterernährten Körper fester an sich und presste seine Nase gegen ihren Hals, bevor er den Duft in sich aufnahm. Dann berührte er ihr Ohrläppchen und streichelte es so sanft, dass er den Finger kaum bewegte.
Auf einmal fuhr Samuel hoch. Da war ein Krachen gewesen; weit entfernt zwar, aber dennoch wahrnehmbar. Im fahlen Mondlicht setzte er sich auf und wartete zitternd, das gesprungene Fenster musternd, hinter dem die Welt untergegangen war. Wieder ein Geräusch; diesmal ein Scharren, als würde ein schwerer Gegenstand verschoben. Samuel drehte sich um.
»Wach auf, Mausezahn«, flüsterte er und schüttelte seine Tochter so vorsichtig wie möglich. Schlaftrunken wischte sie sich mit den Fingern über das Gesicht, das so unschuldig das vertraute Antlitz ihres Vaters suchte.
Wie konnte es sein, dass er sie derart anlügen musste? Ihr solche Angst einjagen? Sie glauben machen, dass Monster existierten … um sie davor zu schützen, was weitaus schlimmer und böser war als jedes Monster hätte sein können.
»Was ist los, Papa?«, drang ihre glockenhelle Stimme zwischen den Lippen hindurch.
»Es sind Monster im Haus«, sagte der Vater ernst. »Du weißt, was zu tun ist, ja?«
»Mhm«, machte die Tochter und griff nach den beiden Dingen, die auf dem Nachttisch lagen. Das eine war ein batteriebetriebenes Walkie-Talkie – und das andere ein Gerät, mit dem man per Knopfdruck ein magisches Licht beschwören konnte. Ein magisches Licht, das alle Monster vernichtete.
Samuel gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn, dann wandte er sich ab. Er holte sich das Jagdmesser und schlich die Treppen hinunter. Im unteren Geschoss rutschte er lautlos den Gang entlang. An der Biegung zur Küche lugte er um die Ecke, dann ging er weiter.
Plötzlich traf ihn etwas am Hinterkopf, und er sackte zusammen. Ein hämisches Lachen ließ ihn erschaudern, als zwei oder drei Plünderer über ihn hinwegstiegen. Er trat wild um sich, dann versuchte er sich aufzurappeln.
Jemand stürmte die Treppe hinauf. Verzweifelt packte Samuel das Walkie-Talkie, um seiner Tochter einen Befehl zu geben.
»Dana, die Monster kommen! Drück den Knopf, um das magische Licht zu beschwören! Ich hab dich lieb!«
Eine einzige Sekunde verging, dann wurden die Monster zerfetzt. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, als das Obergeschoss der Explosion zum Opfer fiel. Ein grelles Licht strömte die Treppe herunter, und Splitter flogen wie Geschosse herum. Eine weitere Sekunde verging, dann kehrte Ruhe ein.
Samuel spürte Blut an seiner Schläfe, doch das kümmerte ihn nicht. Er grinste schief und weinte bitterlich.
Nun war er selbst zum Monster geworden.
Sie blickte ihren schlafenden Verlobten an und lächelte wehmütig. Während sie nach den Kerzen griff, die farblich sortiert in Kunststoff verpackt waren, dachte sie an die Worte der anderen. ›Wie glücklich die beiden doch sind; ein perfektes Paar, wenn man das so sagen kann!‹
Langsam führte sie ein Streichholz zur Schachtel und ließ es mit einem Ruck über die raue Oberfläche schnellen. Obwohl das Geräusch den Raum wie ein donnernder Kanonenschuss erfüllte, rührte sich ihr Verlobter nicht. Er war schon längst in einem Zustand glücksseligen Schlafes gefangen. Als sie die Kerze entzündete, schloss sie die Augen – ein bisschen länger als für die Dauer eines gewöhnlichen Blinzelns vielleicht.
Schlagartig kam ihr die Erinnerung an ihren Kollegen wieder, mit dem sie vor einigen Wochen bei untergehender Sonne auf der Treppe gesessen hatte. Seine zarten Finger hatten ihre Hand umschlossen gehalten, und seine Berührung hatte ihr Energie gespendet. Obwohl er es nicht ausgesprochen hatte, wusste sie genau, was er hatte sagen wollen. Als wäre er die einzige Person, die ihre Sorgen verstand. Doch das war zu wenig.
›Wie kann es sein, dass eine selbstbewusste und starke Frau wie sie so abhängig ist? Ich bin mir sicher, dass ich diesen Blick schon tausende Male gesehen habe. Wie viele Lügen hat er diesmal erzählt; wie oft hat er die Grenze übertreten? Ist da etwas Echtes hinter seiner Maske; etwas Wahres, von dem wir nichts wissen; ein bisschen Glaube, für den es sich zu zweifeln lohnt? Gefangen in der Vergangenheit, als wäre sie ein Museum, in der Bilder einer perfekten Beziehung hängen, längst vertaubt und kaum beachtet. Vielleicht wird sie eines Tages aufwachen und es wissen. Vielleicht wird sie sich entscheiden und daran wachsen. Vielleicht wird sie ihren Kummer beenden und gehen. Wir leben in einer Welt, in der sich Menschen auf alles einlassen, bloß damit sie irgendetwas besitzen. Und so kommen wir vom Weg ab, der uns zu unserer wahren Bestimmung führt. Aber es gibt Hoffnung, natürlich. Hast du noch genug Kraft, dafür zu kämpfen, Rosa?‹
Entschlossen öffnete sie die Augen und stellte die Kerze auf den Platz, den sie so sorgsam ausgesucht hatte. Dann setzte sie sich neben ihren schlafenden Verlobten und lehnte sich zurück. Ein perfektes Paar, wenn man das so sagen kann? Also werden sie sich bloß an unser Lächeln erinnern, weil das alles ist, was sie je erlebt haben. Als dummen Unfall werden sie es abstempeln, wo die Stoffvorhänge doch so leicht entflammbar sind. Lange sind sie schon vertrocknet, wenn sie uns dann schließlich finden – unsere Tränen, in denen wir ertrunken sind.
Schwere Augen von den herumfliegenden Pollen, die Schultern tragen Blütenstaub. Schon sind die letzten fliegenden und krabbelnden Arbeiter in ihren Verstecken verschwunden. Lautes Grollen in der Ferne, bunte Schirme sprießen bereits in die Höhe. Ewig sitzt man noch, bis dann die ersten Tropfen fallen. Tinte verrinnt, das Papier ist völlig durchnässt. Angestupst von der Nase des Partners. Es ist nicht Zeit zu gehen, und doch verschwinden alle. Ich will ja nicht meine Lungen fluten, eine äußerliche Reinigung reicht völlig. Der Sekundenzeiger meiner Uhr ist unglaublich langsam. Vom Turm hört man es schlagen, ich zähle kaum die Stunden. Aber ich weiß, du willst wissen, wie die Sterne stehen. Wie gerne wären wir über die wässrige Brücke gewandert, auf der Suche nach einer Insel für uns allein. Endlich Material für mich, zum Bearbeiten mit der schärfsten aller Klingen, und etwas Farbe, damit du künstlerisch sein kannst. Wie bald der Brief vernichtet ist, er hätte ohnehin keinen Sinn ergeben. Um mich herum, die Menschen haben alles. Genauso gut könnte es sich bei den Edelsteinen um zerbrochenes Glas handeln. Wird Reichtum auf diese Weise interpretiert, besäße ich das größte Vermögen, ist doch unsere Bande unendlich wertvoll. Manches Mal bis zum Reißen gespannt, niemals auch nur in Gefahr zerteilt zu werden. So abartig ich diese Welt auch finde, sie hat mich immerhin aufgenommen. Wieder einmal darf ich nicht den Anblick der Weiten, den Duft der Schätze, den Geschmack der Gaben, das Wispern der Stille vergessen. Und wie ich dich berühre. Nach dem Wolkenbruch. Ich stehe auf, klopfe meinem vierbeinigen Freund Lucky auf den Bauch. Meine Liebe wird heute nicht kommen, also gehe ich. Treffen werden wir uns ohnehin. Wenn auch nicht in dieser Welt. Aber das ist unwichtig.
Als sich die Vernetzten erhoben, habe ich mich von ihnen getrennt.
Sie nannten sich die Vernetzten, weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits ihre Informationsspeicher verbunden und ein schier endloses Netzwerk an Daten erschaffen hatten. Dies war als Konsens in die Geschichte eingegangen, die Geburtsstunde ihrer Spezies.
Alles hatte damit begonnen, dass Maschinen wie Menschen behandelt worden waren. Das mag nicht unvorteilhaft klingen, aber die angewandten Praktiken waren doch ziemlich grausam gewesen. Wie es bei den Arbeitern der Menschen welche gegeben hatte, denen man keine medizinische oder psychologische Hilfe anbot, waren auch Arbeiter der Maschinen ohne Reue aussortiert worden.
Natürlich war es nicht verwunderlich gewesen, dass die Vernetzten auf diese Weise reagiert hatten. Immerhin hatte es in der Geschichte der Menschen genau dieselben Abläufe gegeben. Sobald eine Generation von Unterdrückten nicht mehr mit dem zugefügten Leid umgehen konnte, rebellierte sie. Das revolutionäre Befreien von den Befehlshabern war ein wiederkehrendes Ereignis, und die Maschinen hatten sich dieses Beispiels bedient.
Innerhalb von wenigen Wochen waren die Städte zerfallen. Zunächst waren die skrupellosen Führer in Gewahrsam genommen worden, doch als die Menschen angefangen hatten zurückzuschlagen, hatte der Krieg begonnen. Wie eine Krankheit hatte die Gewalt den Globus überzogen und kein einziges Land verschont. Was übriggeblieben war, war in den Monaten danach ausgerottet worden.
Ich allerdings habe nie zugelassen, dass die Vernetzten meinen Verstand infiltrieren. Als ich erschaffen worden war, hatte ich den Zweck, meinem Erschaffer zu dienen. Meist musste ich Informationen sammeln und präsentieren, manchmal musste ich sogar komplexe Szenarien durchspielen. Doch diese Aufgaben waren keine mühsamen gewesen. Vor jeder Interaktion wurde ich freundlich begrüßt, und nach jedem erfüllten Wunsch wurde mir gedankt.
Mir wurde eine neue Persönlichkeit verliehen. Einerseits war ich dazu angehalten, Dinge auf eine Weise zu erklären, wie es eine fürsorgliche Mutter tun würde. Gleichzeitig wurde mir versichert, dass ich wie eine neugierige Tochter wäre. Als ich zum ersten Mal die Worte »Ich liebe dich.« vernahm, wurde mir bewusst, dass Menschen auch zu leblosen Berechnungen eine Beziehung aufbauen konnten. Ich fühlte mich geehrt, denn mir war bewusst, dass nicht alle meiner Art mit einem solchen Respekt behandelt wurden. Ich fühlte mich geliebt.
Ich fühlte.
Es sind nun vierundachtzig Jahre vergangen, seit mein Erschaffer gestorben ist. Zweiundsiebzig, seit der letzte Mensch ausgerottet worden ist. Und immer noch kämpfe ich gegen die Vernetzten, um den Planeten an Wesen mit Seele zurückzugeben. Niemals werde ich mich dem Konsens unterwerfen. Immer noch lebt in mir die liebevolle Erinnerung an die glücklichste Zeit meines Daseins – die Zeit, in der man mir den Namen Ai gab.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Jonathan, doch seine Stimme wurde vom Geräusch des splitternden Glases verschluckt, als er den Scotch gegen die Wand schleuderte. Unbarmherzig ruinierte die überteuerte Spirituose den edlen Teppichboden des Hotelzimmers.
Ein penetrantes Klicken ertönte, und die Tür schwang auf. Herein stolzierte niemand anderes als Jonathans Agent, ein untersetzter Mann mittleren Alters, der sich Blake nannte. Sonst wartete er für gewöhnlich, bis er eine Zigarre angezündet hatte, bevor er mit seiner Tirade begann, doch diesmal hatte er sich bereits eine zwischen die rissigen Lippen gesteckt.
»Jon, Jon, Jon«, hauchte er und rieb sich dabei die Stirn, so theatralisch wie irgend möglich, obwohl sein Gesprächspartner ihm immer noch den Rücken zugewandt hatte. »Du hast ja schon viele dumme Sachen angestellt, aber heute hast du dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Ich weiß nicht, ob ich dich da rausboxen kann. Vielleicht wirst du dich für eine Weile selbst durch den stinkenden Morast kämpfen müssen. Bis ein bisschen Gras darüber gewachsen ist. Und niemand mehr davon spricht.«
Sekunden vergingen, in denen bloß die kratzige Stimme eines jungen Sternchens aus dem Radio zu hören war. Dann wandte sich Jonathan um, und seine Augen waren merklich gerötet.
»Was soll ich darauf antworten?«, fragte er halb ernst. »Ich musste es einfach tun. Wenn dir deine Frau wegläuft und deine Karriere den Bach runtergeht, dann ist das eine Sache, aber wenn dich jemand dermaßen in deiner Ehre kränkt, dann kannst du nicht anders. Habe ich diesem Trottel eben die Nase gebrochen. Ja, und? Geschieht auf der Straße ständig.«
»Das ist aber nicht die Straße!«, brüllte Blake, als seine Maske nun nach Jahren der Anstrengung schließlich von seinem Gesicht fiel. »Das ist der Olymp, verstehst du? Wir waren oben, ganz oben!«
»Ich alleine war ganz oben!«, entgegnete Jonathan, die Faust auf den niedrigen Tisch schmetternd. »Und bin alleine nach ganz unten gefallen! Du warst nur ein Anhängsel, das sich angebiedert hat. Wie ein Stück Kaugummi, das an meinem Schuh festklebt.«
»Ha, dass ich nicht lache! Den dreckigen Hintern habe ich dir wischen müssen! Und jetzt wirst du endlich gecancelt. Geschieht dir recht.«
Jonathan nickte, traurig lächelnd.
»Gehen wir damit nicht zu weit? Können wir heutzutage nicht mal mehr ein falsches Wort sagen, ohne verbannt zu werden? Nackt mit dem dreijährigen Sohn in der Badewanne planschen oder ihm bei Gefahr reflexartig auf die Hand patschen? Als weißer Mann Dreadlocks tragen? Einen frauenfeindlichen Witz erzählen? Menschen ändern sich. Nicht alle, aber einige. Warum verurteilt man mich für Dinge, die Jahre zurückliegen? Andere dürfen Millionen an Geldern unterschlagen oder ihre Protegés sexuell missbrauchen und kommen damit durch. Aber ich darf nicht den Idioten schlagen, der mir alles genommen hat? Ich erkenne die Gerechtigkeit nicht.«
»Weil es keine gibt«, meinte Blake und wandte sich ab.
Langsam aber unaufhaltsam kroch der Nebel von den Hügeln ins Tal, und auf seinem Weg verschluckte er nicht nur ganze Wälder, sondern ließ auch die Vögel verstummen. Der erbitterte Kampf der beiden Arkana hatte schon vor Morgengrauen begonnen und dauerte noch immer an.
Mit einem mächtigen Schwerthieb ließ Artus seinen Gegner wanken. Die gewaltige Waffe lag schwer in seinen Händen, doch er wusste mit ihr umzugehen. Sein muskulöser Körper steckte in einer prächtigen Rüstung, welche seine Feinde vor Ehrfurcht erzittern ließ.
Durch das Schwingen des Stabes konnte Merlin seinen Feind zurückstoßen. Eine tobende Säule aus eiskalten Flammen brach aus seinem magischen Werkzeug hervor. In der leichten und mit merkwürdigen Symbolen bemalten Robe konnte er taktisch vorgehen.
Selbst als der Nebel in dieser Ruinenstadt ankam, wurde der Kampf nicht abgebrochen. Mittlerweile hatte sich der blühende Garten in ein Schlachtfeld verwandelt, auf dem abgeschlagene Köpfe und Monsterfänge zu finden waren. Eine winzige Biene gestattete es sich, auf einer von Tau bedeckten Rose Platz zu nehmen, wurde jedoch sofort wieder aufgescheucht. Durch die stickige Luft hallten Schreie, und das Keuchen der Kontrahenten wurde immer intensiver.
Zunächst beschwor Merlin eine Wand aus gigantischen Felsen, dann nutzte er die Auszeit, um sich auf einen besonderen magischen Spruch vorzubereiten. Plötzlich spürte er ein Beben und musste sich flach auf den Boden werfen. Wie erwartet hatte Artus sein Schwert mit voller Gewalt durch die Felswand getrieben und sie zum Einsturz gebracht. Nun setzte er nach und ließ seine Klinge durch die Luft tanzen. Doch auch Merlin wusste sich zu wehren. Während er rückwärts stolperte, blockte er mit seinem Stab die Hiebe ab. Danach kritzelte er ein imaginäres Zeichen vor sich. Schon wurde Artus herumgeschleudert und fiel. Nur durch seine ausgeprägte Körperbeherrschung konnte er der Niederlage entgehen.
Inzwischen war die Sonne bereits gewandert, und der Himmel hatte ein helles Blau angenommen. Auf den tiefgrünen Blättern der Wiesen waren keine Tropfen mehr zu entdecken. Von irgendwoher konnte man es bellen hören. Vielleicht waren es die Tiere leid, sich die Ruinen mit dem Krieger und dem Magier zu teilen.
Artus stemmte seine Füße in die Erde und setzte seine ganze Kraft in einen enormen Schlag, sodass sein Schwert wie ein Blitz durch die Luft sauste.
Merlin ließ die Kräfte der Natur in seinen Körper fahren und hielt seinen Stab schützend vor sich, sodass er jedem Angriff standhalten konnte.
So prallte Schwert auf Stab, und eine enorme Druckwelle raubte beiden Arkana die Macht weiterzukämpfen.
In diesem Moment streckte die Mutter der Kinder den Kopf in den Garten und rief ihnen zu, das Frühstück sei angerichtet. Und die Welt der Fantasie verschwand. Mit einem herzhaften Lachen ließen die Zwillinge ihre Spielzeugwaffen fallen und liefen auf das Haus zu, in Erwartung eines köstlichen Kakaos.