Gerechtigkeit?

In diesem Wirbel voller Formen und Farben sieht jedes Gesicht gleich aus, doch eines sticht aus der Masse heraus. Der Rächer wendet seinen Kopf und blickt den Impulsgeber von der Seite an. Mit einer schnellen Bewegung packt er den erstaunten Richter am Handgelenk, doch mit einem Ruck kann dieser sich befreien. Zuerst ein verstörter fragender Blick, dann Panik, und schließlich beginnt die Flucht – der Jäger sieht das als Schuldgeständnis an und verfolgt seine Beute.

Mit einer Geschwindigkeit, die selbst Athleten neidisch machen würde, rennt der Richter durch die Menge, wobei er den unzähligen Passanten geschickt ausweicht. Auch der Rächer setzt einen Fuß vor den anderen; genauestens darauf bedacht, keinen Fehler zu machen, denn schon ein kleines Stolpern könnte ausreichen, und sein Ziel wäre entwischt.

Bereits nach kurzer Zeit wird das Laufen zu einer Anstrengung, was vor allem am Verhalten der Leute ringsum liegt. Einige weichen erschrocken zurück, andere muss der Rächer jedoch anrempeln. Sein nach vorn gebeugter Oberkörper reicht aus, um manche von ihnen zu Boden zu stoßen. Gerade ist eine alte Person zu Fall gekommen, und irgendwo hinter ihm plärrt ein Kleinkind.

Doch alle Eindrücke sind nur Ablenkung; wichtig ist einzig und allein der Richter vor ihm. Einige Male verliert der Rächer ihn aus den Augen, doch glücklicherweise nie endgültig. Als wäre das Ganze nicht schon schlimm genug, beginnt es plötzlich auch noch zu regnen. Viele Regenschirme werden aufgespannt. Pärchen rücken näher zusammen. Noch mehr, worauf man achten muss.

Schließlich ist der Rand der Kreuzung erreicht, und der Richter biegt in eine Seitenstraße ein. Hier gibt es weitaus weniger Fußgänger und so gut wie keinen Verkehr, was sowohl dem Flüchtenden als auch dem Verfolger sehr gelegen kommt.

Über ihren Köpfen blinken Reklametafeln und bewerben die Läden und Kneipen darunter. Mittlerweile füllt der Regen die Löcher im Asphalt, und als der Rächer in eine Lacke tritt, spürt er die Kälte sein Bein heraufkriechen. Eine brünette Frau im Mantel schreit empört auf, weil er sie durchnässt hat, und ein blonder Mann im Anzug schimpft wüst. Auch das ist dem Rächer egal; die Stimmen rücken bereits in die Ferne.

Schon verschwindet der Richter um die nächste Ecke, doch der Rächer bleibt ihm auf den Fersen, so gut wie es eben geht. In dieser Gasse stehen die Gebäude so nah, dass der Richter sich nach oben hin abstoßen kann. Drei schnelle Bewegungen reichen aus, um ihn zwei Meter über den Boden zu katapultieren. Während der Rächer es ihm gleichtut, ist der Richter schon auf dem Dach eines einstöckigen Wohnhauses.

Oben angekommen, muss sich der Rächer zunächst orientieren. Er sieht sich um, ist nicht nur auf der Suche nach dem Richter, sondern prägt sich auch markante Punkte ein. Vielleicht kann er den Richter irgendwie in eine Ecke treiben, oder möglicherweise kann ein Sprung zu einem anderen niedrigen Gebäude den Vorsprung verringern.

Die Verfolgung wird auf den Dächern der Stadt fortgesetzt. Weg vom bunten Treiben, weg von den Menschen dort unten. Es wird gefährlicher, aber wenigstens gibt es jetzt kein Einmischen mehr. Man kann sich voll und ganz auf die Verfolgung konzentrieren. Nun sind es Mauern und Leitern anstelle von Straßen; es geht in die Vertikale statt in die Horizontale.

Als die Hand des Rächers vom Geländer eines gusseisernen Balkons rutscht und er beinahe stürzt, überlegt er sich für einen Moment, ob es das wert ist. Sein eigenes Leben riskieren, um den Richter vor ihm zu erwischen. Aber er lässt sich nicht beirren. Es geht weiter, um jeden Preis.

Zwischen den Rohrleitungen eines Hotels gerät der Richter ins Straucheln, nur ein wenig. Das Herz des Rächers explodiert beinahe vor Aufregung, und er zwingt sich zu innerer Ruhe, damit er den Richter zur Strecke bringen kann. Der Wind gewinnt an Stärke, sodass er dagegen ankämpfen muss. Andere Empfindungen, wie die aufkommende Angst beim Aufheulen einer Sirene, unterdrückt er einfach.

Endlich ist der Richter zum Greifen nahe. Es wäre eine Qual, ihn mit einem Sprung erwischen zu wollen und dann zu versagen, doch der Rächer beschließt, es zu riskieren. Mit einem kraftvollen Satz hechtet er auf den Richter zu. Eine einzige Sekunde lang ist er in der Luft, doch in dieser Zeit überschlagen sich seine Gedanken, und furchtbare Kopfschmerzen setzen ein. Dann spürt er Stoff zwischen seinen Fingern.

Auf einmal ist alles kopfüber. Die Welt wird aus den Angeln gehoben, und sowohl der Richter als auch der Rächer überschlagen sich mehrmals. Irgendein harter Gegenstand verpasst beiden mehrere Schrammen, aber dessen Identität bleibt unklar. Es gibt ein Gerangel, in dem der Rächer wiederholt in den Bauch geschlagen wird.

Und plötzlich setzt Schwerelosigkeit ein, und der Rächer realisiert, dass er fällt. Womöglich handelt es sich um einen Sturz, den er nicht überleben wird. Etwas Spitzes bohrt sich auf halbem Weg nach unten in seinen Rücken, woraufhin er warmes Blut aus seinem Mund austreten spürt.

Obwohl er sich darauf vorbereitet hat, ist der Schmerz, als er am Boden aufschlägt, überwältigend. Die Luft wird ihm aus den Lungen gepresst. Knochen knirschen. Unmittelbar neben ihm ertönt ein Geräusch, von dem ihm so übel wird, dass er sich übergeben muss.

Nachdem er die Augen öffnet, sieht er den Richter erschöpft neben ihm knien. Trotz der Wunden holt dieser aus und verpasst dem Rächer einen Kinnhaken, der ihn hintüber schleudert. Als er mit schlaffem Körper in einer Mulde in stinkendem Müll liegt, spürt er den Regen auf seinem Gesicht, was Erinnerungen wachruft. Es ist ein angenehmes Gefühl, selbst in dieser Situation.

Wieder schlägt der Richter zu, doch diesmal kann der Rächer ausweichen. Das Bild der liebgewonnenen Personen vor seinem inneren Auge hat ihm zu neuer Kraft verholfen. Schnell duckt er sich unter dem Hieb hinweg und hämmert seine Stirn gegen die des Angreifers.

Es ist geschafft. Ein ächzender Richter liegt vor ihm, verwundet und vollständig besiegt. Wankend positioniert sich der Rächer über ihm. Bevor er diesen Menschen tötet, verkündet er seinen Triumph, mit einer Stimme voller Zweifel.

»Gerechtigkeit!«, meint der Rächer.

Müde lächelt der Richter – ein mitfühlender Ehepartner und liebevoller Vater, der das ganze Leben lang sein Bestes gegeben hat.

»Gerechtigkeit, was ist das?«